Bis 2017 habe ich regelmäßig für die Zeitung geschrieben und unter anderem die Lindauer Psychotherapiewochen journalistisch begleitet. Einige Artikel können Sie hier nachlesen.
Fremd bin ich auch mir selbst (2017)
Das Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Fremden stand im Mittelpunkt des Eröffnungsvortrags von Joachim Küchenhoff, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Baselland. Gerhard Ecker, Oberbürgermeister der Stadt Lindau, begrüßte die Gäste und versprach, dass die nächste Tagung in der neuen Inselhalle stattfinden wird. Langfristige Verträge zu guten Konditionen seien bereits ausgehandelt wie Peter Henningsen von der wissenschaftlichen Leitung der Psychotherapiewochen zufrieden feststellte.
Im weißen Tagungszelt ging es dann zur Sache: Wie ist das Verhältnis zwischen uns und den Fremden? Komplizierter als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn fremd sind nicht nur die anderen, fremd sind wir uns auch selbst. Küchenhoff hat mit sechs Thesen die Eckpunkte des Spannungsfelds zwischen dem Eigenen und dem Fremden gesetzt.
Seine erste These lautet: Es gibt nicht zuerst das Eigene und dann das Fremde, beides ist gleich ursprünglich. Von der ersten Minute unserer Existenz geht es immer um das Verhältnis zwischen mir und den Anderen. Aber wie sieht das Verhältnis aus? Was gehört zu uns, was zur äußeren Realität?
Diese Frage führte Küchenhoff zu seiner zweiten These, dass Projektionen eine wichtige Rolle spielen in diesem Verhältnis. Denn die menschliche Psyche ordnet das, was uns ein gutes Gefühl vermittelt, gern dem Eigenen zu, und das, was ein unangenehmes Gefühl verursacht, den Anderen. Diese Zuordnung ist tief verwurzelt, und sie ist der Grund für die Bildung von Vorurteilen. So wird der andere schnell zum Eindringling, der Haus und Hof – und das Sozialsystem - bedroht. Dieser Mechanismus wird immer wieder instrumentalisiert, unter anderem von Parteien.
Küchenhoff: „Je mehr ich das abwehren muss, was in mir selbst unbekannt ist, umso mehr muss ich abwehren, was mir unbekannt ist beim anderen.“ Das Problem, so seine dritte These, ist allerdings, dass sich diese Fremdheit nicht einfach aufheben und in Eigenheit überführen lässt. Küchenhoff: „Würden wir uns überhaupt darüber freuen, wenn Fremdheit aufhebbar wäre?“ Und ist bei denjenigen, die Fremdheit aufheben wollen, nicht vielleicht auch Narzissmus im Spiel? Also ein Machtanspruch des Eigenen, die Forderung, alle anderen sollen sein wie ich selbst? Dann werden die Menschen geteilt in Gefolgsleute und Gegner, und die Vernichtung aller Träger des Fremden gerechtfertigt.
Deshalb sei es auch gefährlich, so Küchenhoff, Unterschiede verstehend zu nivellieren, anstatt eine grundlegende Unzugänglichkeit des Fremden zu akzeptieren. Seine vierte These lautet: Was als fremd, was als eigen gilt, legt keine Instanz verbindlich fest. Die Grenzen zwischen dem Fremden und dem Eigenen müssen immer neu ausgehandelt werden. Der Vorgang ist bekannt aus der Entwicklungspsychologie. Jugendliche müssen prüfen, was sie von ihren Eltern übernehmen wollen und was nicht. Das gelingt nur, wenn die Jugendlichen die Freiheit haben, sich zu identifzieren oder abzugrenzen, wenn sie also nicht einem Wunschbild ihrer Eltern entsprechen müssen.
Auch die Frage, wer zum Volk gehört, muss immer neu verhandelt werden. Gesellschaften befinden sich im Wandel. An dem Aushandlungsprozess sind wir alle beteiligt, er kann nur gemeinsam gelingen. Ort dieses Prozesses ist ein transkultureller Übergangsraum, in dem nachgedacht werden kann über Zuschreibungen. In persönliche Begegnungen lernen wir den anderen, aber auch uns selbst neu kennen.
Deshalb ist, so die fünfte These, die Anerkennung der eigenen Fremdheit die Voraussetzung für die Anerkennung der Fremdheit des Anderen. Dann kann die Reise beginnen in das Fremde des Eigenen, dann kann die Begegnung mit dem Fremden fruchtbar werden. Küchenhoff formulierte als sechste These: Wichtig ist nicht die Aufhebung der Fremdheit, sondern der Umgang mit ihr, ein Umgang, der sowohl Aneignung wie Anerkennung des Fremden beinhaltet. Das Fremde macht dem Eigenen Konkurrenz, ruft aber auch Möglichkeiten wach, die wir bislang für ausgeschlossen hielten. Ziel ist die Anerkennung der Fremdheit, so Küchenhoff, selbst in einer Freundschaft. Auch Freundschaft muss durch die Anerkennung der gemeinsamen Fremdheit hindurch, in einer Bewegung des Hörens, um noch in der größten Vertrautheit den Abstand zu wahren, der das Lernen durch Fremdes ermöglicht. „Ziel kann nicht sein, das Fremde zu erlernen. Die Erfahrung des Fremden“, so Küchenhoff, „ist eine Erfahrung, die gegen den Strich geht.“
Hoffnung ist ursprünglicher als Angst (2017)
Verena Kast untersucht die unterschiedlichen Aspekte von Angst, Ressentiment und Hoffnung
„Angst-Ressentiment-Hoffnung“ ist das Tagungsthema der ersten Woche der diesjährigen Psychotherapietagung, Verena Kast hat es auch zum Titel ihres Vortrags am Montagvormittag gemacht. Immer wenn wir Angst haben, so Kast, dann verlieren wir den Boden unter den Füßen. Jeder reagiert anders auf Angst. Die einen gehen zum Angriff über, andere ziehen sich zurück, man versucht, die Angst zu bannen oder sie zu verleugnen. Aber wir können auch mutig sein und uns der Angst stellen.
Die Angst wurzelt in der Todesangst. Symbolisch lässt sich die Todesangst auch verstehen als Angst, das eigene Leben zu verfehlen. Dass wir sterblich sind, fordert uns dazu heraus, Spuren zu hinterlassen. Angst kann uns stimulieren, kann die Kreativität anstacheln, sie kann uns aber auch lähmen, wir können an ihr zerbrechen. Angst gebiert Monster, stellte Kast fest, wenn sie zur Furcht wird - vor dem Fremden und vor den Fremden.
Setzen wir uns jedoch mit der Angst auseinander, schauen wir sie an, werden wir kompetent im Umgang mit ihr. Jeder Prozess beginnt mit einem Problem, von dem man nicht weiß, wie es zu lösen ist. Neue Ideen kommen, wenn wir darauf vertrauen, dass es eine Lösung gibt. Die Angst nimmt ab, wenn wir sie mit anderen Menschen teilen. „Deshalb ist Krisenintervention auch hilfreich“, sagte Kast. „Wir können entängstigt werden und wieder Zugang finden zu unseren Ressourcen. Dann kommen wir auch auf mögliche Lösungen.“
Ängste können gelindert, sie können aber auch geschürt werden. Kast: „Die manipulatorische Absicht, andere zu ängstigen, ist höchst unethisch.“ Leider ist das Schüren von Ängsten gerade weit verbreitet. Wenn man sich die Ängste nicht anschaut, wenn man nicht versucht, die dahinter stehenden Probleme zu lösen, können sie sich verfestigen und zu Ressentiments führen. Befeuert werden Ressentiments durch das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Das äußert sich als Bitterkeit, automatisiertes Zürnen, kalter Hass, Neid, eine feindselige Haltung und Zynismus. Die Folge ist eine seelische Selbstvergiftung.
Gefährlich wird es, wenn persönliches Ressentiment eine überpersönliche Bühne findet. Wenn das Einzelschicksal mythisch überhöht wird und zur Identifizierung mit einer Führerperson führt. Wenn wir eine durch Ärger motivierte Aggression auf andere projizieren und plötzlich davon überzeugt sind, dass „die Anderen“ uns schaden wollen. Wir können Ängste abwehren, sinnvoller jedoch ist, sie nicht zu leugnen, sondern sie wahrzunehmen, auszuhalten und nach Lösungen zu suchen. Die Probleme, die hinter der Angst stehen, müssen angeschaut werden. Dann kann klar werden, dass wir, wenn wir in Ressentiments gefangen sind, oft schlechte Erfahrungen, sogenannte Komplexepisoden, auf neue Situationen übertragen. Und auf diese Weise der Vergangenheit verhaftet bleiben.
Die Opferrolle wird zementiert und man übersieht, dass man auch mit der Angriffsrolle identifiziert ist. Therapie kann hilfreich sein, wenn durch einen freundlichen Blick der Therapeuten die Ressourcen der Patienten in den Blick rücken. Wenn ein Möglichkeitsraum geöffnet wird, der Hoffnung keimen lässt auf eine Entwicklung zum Guten. Wenn man sich wieder freuen kann, wenn die eigene Energie nicht mehr blockiert ist. Wenn man sich wieder bedeutsam fühlen kann, ohne auch bedeutsam sein zu müssen. Diese Freude wird körperlich und seelisch als Wärme empfunden. Hoffnung wächst und die kleine Schwester der Hoffnung: die Vorfreude.
„Hoffnung“, so Kast, „ist ursprünglicher als Angst. Unser Leben ist mit Hoffnung unterlegt, sie ist eine Begleitmotivation des Lebendigseins.“ Und sie zitierte Cicero: „Solange ich atme, hoffe ich.“ Und Bloch mit dem Satz: „Die Hoffnung ersäuft die Angst.“ Vertrauen ermöglicht Hoffnung. Vertrauen ist sozialer Kitt. Und die Bedingung dafür, Risiken einzugehen. Wenn Vertrauen zu bröckeln beginnt, bröckelt der Zusammenhalt der Gesellschaft. „Es liegt auch an uns“, so Kast, „Vertrauen zu schaffen, und verlässlich zu sein.“
Sie setzt sich ein für eine Haltung pragmatischer Hoffnung, jenseits eines flachen Optimismus. Getragen wird die pragmatische Hoffnung von der Bereitschaft, die eigenen Ängste in den Blick zu nehmen, nach den Ursachen dafür zu suchen, Probleme zu lösen, sich konsequent auf Möglichkeitsräume zu beziehen und eine zuversichtliche Haltung einnehmen auch angesichts einer unübersichtlichen Situation.
Handle im Internet so, wie auch du behandelt werden willst (2017)
Bernhard Pörksen spricht über die Macht des Internets und die Notwendigkeit ihrer Zivilisierung
Sie schüren Angst und Ressentiment, setzen aber auch Zeichen der Hoffnung – die sozialen Netzwerke sind zu einer wichtigen Macht in unserer Gesellschaft geworden. Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler aus Tübingen, nahm sie am Mittwochmorgen in seinem Vortrag im Rahmen der Psychotherapietage unter die Lupe.
Martha Payne, neun Jahre alt und aus Schottland, wurde berühmt, als sie 2012 begann, das Essen in der Schulmensa zu fotografieren, zu kommentieren und ins Internet zu stellen. Ihre Kriterien: Sieht das Essen gesund aus? Wie viele Bissen sind nötig, um es zu verspeisen? Wie viele Haare befinden sich in dem Essen, die nicht meine eigenen sind?
Auf dem ersten Foto, das sie aufnahm, ist eine einsame Krokette zu sehen und undefinierbar verkochtes Gemüse. Ihr Kommentar: Ich bin ein Kind, das wächst. Das Schulessen trägt nicht dazu bei. Ihr Blog wurde gelesen, schon rasch bekam sie Unterstützung in den sozialen Medien. Es gab Proteste: Wie könnt Ihr es wagen, unsere Kinder so abzuspeisen?
Als die Schuldirektorin Martha Payne bat, mit ihrer Berichterstattung aufzuhören und sie sich von ihrer Fan-Gemeinde verabschiedete, hatte ihr Blog innerhalb von 24 Stunden eine Million Klicks.
Ein harmloses Beispiel, so Pörksen, das die zwei Grundgesetze des digitalen Zeitalters zeigt: Es gibt eine neuartige Assymetrie von Ursache und Wirkung, ein winziger Anstoß kann einen medialen Tsunami auslösen. Und es ist unmöglich, diesen Vorgang zu zensieren oder zu kontrollieren.
Wenn es einem neunjährigen Mädchen gelingt, ein Thema auf die globale Agenda zu setzen, dann hat sich etwas grundlegend verändert. Zwei Botschaften leitet Pörksen aus diesem Vorgang ab: Wir können uns erstens die Folgen unserer kommunikativen Aktionen im Internet nicht vorstellen, wir sind „möglichkeitsblind“, und wir sind zweitens konfrontiert mit einer neuen Logik der Skandalisierung.
Vor dem digitalen Zeitalter befand sich das Publikum am Ende des Kommunikationsprozesses, nun kann es sofort reagieren und Themen setzen, die auch von den klassischen Medien nicht ignoriert werden können. Barrierefreie Interaktion, unvorstellbare Vernetzungsmöglichkeiten - die digitalen Medien ermöglichen, so Pörksen, eine radikale Demokratisierung der Enthüllungs- und Empörungspraxis.
Das bringt Veränderungen mit sich. Erstens: Neue Enthüller tauchen auf und erregen öffentliche Aufmerksamkeit. Zweitens: Die Definition relevanter Information verändert sich. Eine persönliche Geschichte kann ebenso in den Fokus der digitalen Aufmerksamkeit rücken wie eine „hingerotzte Banalität“ oder ein Hasskommentar. Drittens: Es gibt Opfer. Jeder ist in Gefahr, Gegenstand eines weltweiten Aufmerksamkeitsexzesses zu werden. Viertens: Die neuen Verbreitungsdynamiken funktionieren nach dem Muster einer Epidemie. Wenn die verbreitete Info ein Fake ist, kann sie Existenzen zerstören. Fünftens: Die digitalen Medien sind wichtige Werkzeuge der Meinungsäußerung und des Protests.
Das Netz bedeutet eine neue Dimension von Sichtbarkeit. Pörksen sprach von „Überbelichtung“ und „Totalausleuchtung“. Wer postet was über Flüchtlinge? Meinungen werden sichtbar, Unterschiede auch. Man kann darauf reagieren. Diese Sichtbarkeit, so Pörksen, erzeugt Erregung und Gereiztheit.
Tatsache ist: Wir haben es mit einer neuen medialen Macht zu tun. Früher entschieden die Journalisten darüber, was publiziert wird und was nicht, diese Macht ist nun gebrochen. Neben die Medien als vierte Gewalt schiebt sich die fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Bei terroristischen Anschlägen greifen Medien längst auf Handyaufnahmen von Privatpersonen zurück, die zufällig am Ort des Geschehens waren. Es gibt den Shitstorm, das Mobbing, aber auch berührende Hilfsaktionen, die auf viel Resonanz stoßen.
Wie lässt sich diese fünfte Gewalt zivilisieren? Pörksen sieht im Umgang mit den sozialen Medien einen „gigantischen gesellschaftspolitischen Bildungsauftrag“. Das Wertegerüst des Journalismus, so Pörksen, kann die konkrete und pragmatische Ethik liefern, die wir heute brauchen. Dazu gehört auch die Reflexion darüber, wie man sich in den Netzwerken äußert. Wie kann man vermeiden, dass man seinen Vorurteilen auf den Leim gehe?
Pörksen empfiehlt eine Besinnung auf Kants kategorischen Imperativ: Handle im Internet stets so, wie auch du behandelt werden willst. Er hofft, dass sich die digitale Gemeinschaft in eine reaktionelle verwandelt, und dass sie einen Zivilisierungsprozess durchmacht, der dringend nötig ist.
Ausgrenzung aktiviert das Schmerzzentrum (2017)
Joachim Bauer zeigt, dass Ausgrenzung eine Ursache ist für die Radikalierung junger Menschen
„Aggression oder Kooperation, wofür sind wir gemacht?“ So lautet die Frage, die Joachim Bauer in den Mittelpunkt seiner Vorlesungen im Rahmen der Psychotherapietage gestellt hat. Bauer ist Mediziner und Psychiater, er arbeitet an der Uniklinik in Freiburg. Hirnforscher haben festgestellt, so Bauer, dass soziale Ausgrenzung dieselben Gehirnareale reizt wie körperlicher Schmerz. Und zwar nicht nur, wenn wir selbst ausgegrenzt werden, sondern auch, wenn Menschen ausgegrenzt werden, die uns nahe stehen.
Das hat weitreichende Folgen, so Bauer: „Unsere globalisierte Welt ist keine Spielwiese, wir sind miteinander verbunden. Das hat Wirkungen, die uns alle betreffen können.“ Ausgrenzung erzeugt Schmerz, Schmerz begünstigt Aggression. Aggression kann zu Radikalisierung führen und zu terroristischen Akten. Untersuchungen haben gezeigt, dass gute zwischenmenschliche Beziehungen den Schmerz akuter Ausgrenzungserfahrung abfedern.
Das gilt es bei der Diskussion um Integration zu berücksichtigen. Die Flüchtlinge kommen aus einer anderen Kultur. „Unsere Kultur ist individualistisch orientiert“, so Bauer, „wir wählen unsere Bezugsgruppen selbst, im Vordergrund steht die Befriedigung individueller Bedürfnisse, Autonomie, und ein selbstbewusstes Streben nach persönlichem Erfolg.“
Während in der arabischen Kultur der soziale Zusammenhalt eine wichtige Rolle spiele, die Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Volk und einer Religion. Religion werde als sinnstiftend erfahren, ethnische und religiöse Traditionen seien eine Einheit, Arabischsein und Islam eng miteinander verbunden.
Flüchtlinge, die aus dem arabischen Kulturkreis kommen, werden bei uns mit anderen Werten konfrontiert. Umso wichtiger ist der Rückhalt in der Moschee für das Gefühl sozialer Integration und für das Identitätserleben in der Gemeinschaft. Der Imam ist Seelsorger und Ratgeber. „Das bedeutet nicht, dass er zu Gewalt aufrufen darf“, machte Bauer klar, „die muslimischen Zentren müssen geheimdienstlich kontrolliert werden zum Schutz unserer eigenen Gesellschaft.“
Aber wir sollten den zu uns Gekommenen erlauben, auf ihre Weise bei uns Fuß zu fassen. Das Leben in Deutschland bedeutet für viele arabische Muslime kultureller Stress – die Folgen sind Depression, Angst, innerfamiliäre Spannungen.
Ungewohnt sei auch die andere Kommunikationsform. Während bei uns eine Aussage kurz und knapp sein sollte, lebt die Glaubhaftigkeit für arabische Menschen von der Ausführlichkeit, von Wiederholungen, Übertreibungen, Beteuerungen. Einfache nüchterne Feststellungen sind für arabische Menschen Zeichen für Unglaubwürdigkeit. Es ist unhöflich, sofort zur Sache zu kommen.
Die Befragung von jungen Muslimen ergab, dass folgende Punkte als problematisch erlebt werden: Wenn man sich weder in der eigenen noch in der fremden Kultur zuhause fühlt, Diskrimierung im Alltag erlebt und den Verlust von Sinn.
„Wenn Menschen nicht mehr wissen, welche Bedeutung sie und ihr Leben haben, wird es kritisch“, sagte Bauer und zitierte Gadamer mit dem Satz: „Der Mensch ist ein sinnsuchendes Tier.“
Auch bei der Radikalisierung junger Europäer, die sich dem IS anschließen, spielt Ausgrenzung eine Rolle. Die Befragten fühlen sich überfordert durch die Komplexität des hiesigen Lebens, sie haben Nachteile erlebt bei der Bildung, bei der Wohnsituation und auf dem Arbeitsmarkt. Islamkenntnisse sind nur oberflächlich vorhanden, erschöpfen sich in leeren Slogans, die aus dem Internet kommen. Der Islam sei nur das „Dressing“ für die Radikalisierung. From Zero to Hero: Sie wollen Helden werden und damit den eigenen Minderwertigkeitskomplexen entkommen. Bauer: „Die extremistische Ideologie ist nicht der Schlüssel ihrer Taten.“
Wie ist die Integration von Geflüchteten möglich? Muslime sollten nicht gezwungen werden, so Bauer, sich für eine der beiden Kulturen zu entscheiden. Es sei wichtig, die muslimischen Gewohnheiten und sozialen Kontexte nicht zu kritisieren und abzuwerten, sie geben Halt. Und wie kann Integration gelingen? Indem Ähnlichkeiten entdeckt werden, durch Empathie und Verständnis, gemeinsames Lernen, Arbeiten und Feiern. Es gelte, Fremdheitsgefühle anzuerkennen, Andersartigkeit bestehen zu lassen und nicht auf die Schnelle beseitigen zu wollen. Bauer: „Das ist eine große Aufgabe, die uns die nächsten zehn Jahre beschäftigen wird. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir das schaffen können.“