"Er trägt einen Kittel und einen Imkerhut, seine Augen leuchten dunkel hinter dem hellen Netz. Ich folge ihm ins Bienenhaus. Es riecht nach Holz, Wachs und Honig. Mein Onkel öffnet die Rückwand eines Kastens und zieht einen der hintereinander hängenden Rahmen heraus. Ich sehe ein Wabenfeld mit zungenförmigen Ausbuchtungen und sechseckigen Kammern, verdeckelt mit einer hellgelben Schicht Wachs. Mein Onkel legt den Rahmen auf einen Tisch, streicht mit einer langen weißen Feder die Bienen vorsichtig ab, nimmt einen Metallkamm, schiebt ihn unter die Wachsschicht und hebt sie ab.
Darunter leuchtet ein See. Gelb, dickflüssig. Ich sehe das Gesicht meines Onkels darin und mein eigenes, klein am linken Rand. Mit einem Messer schneidet Walter ein Stück der Wabe ab und sagt: Das ist für dich.
Und was soll ich damit machen?
In den Mund nehmen.
Die ganze Wabe? Mit dem Wachs und allem Drum und Dran?
Ja, sagt er lächelnd, mit allem Drum und Dran. Das Wachs kannst du dann ausspucken.
Die Wabe schiebt sich in meinem Mund zusammen wie der Balg eines Akkordeons und gibt eine Flut süßer Töne frei. Viel. Sehr viel. Zu viel fast. Süß. Sehr süß. Zu süß fast. Ich schlucke und schlucke und bin froh, als der Honig weggeschluckt ist. Erst dann kann ich ihn schmecken, erst dann ist er süß und gut."
Der Bienenkönig heißt Walter Jakoby und lebt am östlichen Rand Berlins. Er hat sich mit seinem Bruder Richard so lange gut verstanden, wie die Mauer stand. Als die Mauer fiel, wurde es schwierig. Und als ihr Vater starb, begann der Streit. Vordergründig geht es ums Erbe, aber eigentlich geht es um das Leben im Osten und das Leben im Westen. Das ist die Ansicht von Kornelia Jakoby, Tochter von Richard, Nichte von Walter.
Sie besucht ihren Bruder Jens in Berlin. In seiner Küche stößt sie auf ein Glas Honig ihres Onkels. Als sie ein Kind war, nahm er sie mit ins Bienenhaus, schnitt ein Stück Wabe ab und gab es ihr. Die Wabe schob sich in ihrem Mund zusammen wie der Balg eines Akkordeons, und gab eine Flut süßer Töne frei.
Die Geschichte entfaltet sich auf zwei Ebenen: auf der Ebene von Walter und Richard, und auf der Ebene von Kornelia Jakoby und ihrem Bruder Jens. Es geht um das Süße, und um das, was nicht süß ist. Es geht um Honig und um das, was Walter sauer gemacht hat. Es geht ums Reden und ums Schweigen. Der Roman Der Bienenkönig erzählt, wie sich Teilung, Mauerfall und Wiedervereinigung auf die Beziehungen einer Familie ausgewirkt haben.
Vielleicht musste auch ich etwas opfern. Aber was?
Zeit. Lebenszeit. Um zu sammeln, was war. Um hoch zu holen, was nach unten gesunken ist. Um die Brüder an das zu erinnern, was mal gut war in ihrer Beziehung. Um zu zeigen, was schwierig war, nicht nur für sie. Ihr Streit hat doch auch politische Ursachen, dachte ich, er wurde ausgelöst durch die Teilung Deutschlands, durch diese ganze unselige Ost-West-Geschichte.
Ich sah eine Erinnerungswabe vor mir mit sechseckigen Zellen. Wenn der Rahmen voll war, würde ich ein Stück abschneiden und es meinem Vater geben. Und dann würde ich ein weiteres Stück abschneiden und es meinem Onkel geben. Ich würde sagen: Das ist für euch.
Für uns? Und was sollen wir damit tun?
Essen.
Mit dem Wachs und allem Drum und Dran?
Mit allem Drum und Dran. Das Wachs könnt ihr dann ja ausspucken.
Die Wabe würde sich in ihrem Mund zusammenschieben und eine Flut süßer Töne freigeben. Nur die süßen Töne? Oder auch die schrägen, dissonanten, schiefen Töne? Ich musste alles zur Sprache bringen. Mein Vater hatte heiles Westwelttheater inszeniert sobald wir in Baldow waren, und Walter inszenierte sich als Opfer der SED-Diktatur, kochte aber klammheimlich sein eigenes Süppchen. Die politischen Verhältnisse waren eine Ursache für ihren Streit, aber es gab noch eine persönliche Verantwortung. Auch die musste zur Sprache kommen.
Sie würden schlucken. Und schlucken. Aber nachdem sie sich vergegenwärtigt hatten, was gut und was schwierig war, würden sie aufeinander zugehen.