Nietzsche steht nicht im Mittelpunkt meines Romans. Aber natürlich habe ich mich mit ihm und seinem Zarathustra auseinandergesetzt. Er hat mich geärgert, er hat mich amüsiert, ich habe gelacht, ich war abgestoßen, aber immer haben seine Worte etwas mit mir gemacht.

„Was zum Beispiel meinen Zarathustra anbetrifft, so lasse ich niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat (...)"

Einiges, was Nietzsche in seinem Zarathustra schreibt, ist nicht zu rechtfertigen. Aber sein Zarathustra legte auch keinen Wert auf Jünger. Nein, man muss nicht allem zustimmen, was er in seinen Predigten von sich gegeben hat.

 

 

 

 

Nietzsche kommt aus Röcken und war der Sohn eines Pfarrers. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten. In Bonn studierte er ein Jahr lang Theologie und klassische Philologie, wechselte dann nach Leipzig und ließ die Theologie sausen. Wie viel Theologie in seinem Zarathustra ist, könnte man sich mal näher anschauen. Die Reden Zarathustras erinnern jedenfalls sehr an Predigten.

In Basel bekam er mit 24 Jahren eine außerordentliche Professur für Klassische Philologie, nach zehn Jahren musste er den Lehrstuhl verlassen. Er litt an Kopfschmerzen, die ihn durch halb Europa getrieben haben, er war immer auf der Suche nach einem Ort, an dem es ihm besser gehen würde. 1881 verbringt er den ersten Sommer in Sils Maria. In den folgenden Jahren arbeitet er an einer Umwertung aller Werte.

 

 

 

 

 

 

Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde eins zu zwei –
Und Zarathustra ging an mir vorbei …

So beschreibt Nietzsche das Auftauchen Zarathustras. Mit Zar, der im Norden Afghanistans aufgewachsen ist, und damit in einer Gegend, die früher zu Persien gehörte und die Heimat des historischen Zarathustras war, kommt in meinem Roman Zarathustra Nummer drei ins Spiel. Dass er an einem Donnerstag kommt, verleiht seinem Auftauchen eine Alltäglichkeit, die mir gefallen hat. Sie ermöglicht, Nietzsche und seinem Zarathustra neu zu begegnen.

 

 

 

Ich bin ihm mit 20 das erste Mal begegnet, in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Was ich las, hat mich sofort angesprochen: „Gewiß, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutlosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen.

Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert."

 

 

 

 

Das fand ich befreiend. Ich stand am Anfang ihres Studiums, vor mir lagen die ausgedehnten Felder der Literatur und der Philosophie. Der Druck war groß, Tag und Nacht zu lesen, um nur einen kleinen Teil von dem kennenzulernen, was vor mir lag.

Deshalb gefiel mir Nietzsches Plädoyer für das "Vergessenkönnen": "Bei dem kleinsten aber und dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, (...) der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andre glücklich macht."

 

 

 

 

1864 hat Nietzsche noch keinen Bart, ein Jahr später ist er da, der Bart, der zu seinem Markenzeichen geworden ist.

Er schreibt: "So kann der sanftmüthigste und billigste Mensch, wenn er nur einen grossen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sitzen und ruhig sitzen. - die gewöhnlichen Augen sehen in ihm den Zubehör zu einem grossen Schnurrbart, will sagen: einen militärischen, leicht aufbrausenden, unter Umständen gewaltsamen Charakter - und benehmen sich darnach vor ihm."