Meine traurige Heimat war das schönste Land der Welt. Jetzt ist es das Unglücklichste.

 

Im Februar 2017 unterrichtete ich Deutsch in einem B2-Sprachkurs in Ravensburg. Die meisten Teilnehmer kamen aus Syrien und sprachen schon gut Deutsch. Sie sollten eine kurze Präsentation machen, das gehörte zum Lehrplan. Im Buch stand ein Text über Magritte, daneben war eins seiner Bilder: ein Zimmer, dessen Wand sich auflöst und Himmel wird. Wir sprachen über den Surrealismus, wir sprachen über die Alltagsgegenstände, die das Zimmer beherrschen, und über das Verschieben der Grenzen unserer Wahrnehmung.

 

Einer der Teilnehmer machte eine Präsentation über den Zusammenhang von Surrealismus und Sufismus, inspiriert von einem Essay des syrischen Schriftstellers Adonis. „Sufismus“ komme von „safar“, was auf Arabisch „Klarheit“ bedeute. Zur Wortfamilie gehöre aber auch „sophia“, das griechische Wort für „Weisheit“. Sowohl Sufis wie Surrealisten wollen die Grenzen unserer Wahrnehmung erweitern, der Unterschied: die einen suchen Gott, die anderen nicht. Dersim öffnete in wenigen Sätzen den Horizont, zeigte Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, seine Präsentation war grenzüberschreitend im besten Sinn.

 

Mohamed kam aus Aleppo und begann seine Präsentation mit den Worten: „Meine traurige Heimat war das schönste Land der Welt. Jetzt ist es das Unglücklichste.“ Und Khaled erzählte, warum der Mittwoch ein besonderer Tag in Homs ist. Er sprach vom Humor seiner Bewohner, von ihrem Widerstand gegen die Eroberung durch die Mongolen und von der Belagerung durch Assads Armee. Yusuf, der neben Khaled saß, hatte bei einer Demonstration seinen besten Freund verloren.

 

Es war wie auf dem Bild von Magritte: im Verlauf der Präsentationen lösten sich die Wände des Raums auf, und der Blick, der vom Alltag gefangen ist und sich in den Vordergrund drängt wie die Gegenstände, die wir täglich benützen, öffnete sich auf eine andere Welt, auf verstörende, verletzende, verheerende Erfahrungen – aber auch auf die Geschichte Syriens, auf philosophische Fragen, auf Erlebnisse und Erinnerungen. Ich wünschte mir, dass auch andere Menschen erfahren könnten, was ich gehört hatte.

 

Denn Verständnis ist die Bedingung für Integration. Ein Gefühl von Zugehörigkeit entsteht, wenn erzählt wird und zugehört, wenn nachgefragt wird und erklärt, wenn ein Austausch stattfindet von Erfahrungen und Erinnerungen. Hölderlin schreibt: “Viel hat von Morgen an, seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, erfahren der Mensch.” Es ist kein Zufall, dass dieser Satz in der Friedensfeier steht, denn Austausch und Gespräch sind die Voraussetzung für Frieden. "Meine traurige Heimat" ist das erste Buch, das ich mit osbert+spenza gemacht habe. Ich wünsche den Texten gute Aufnahme, und hoffe, dass sie zum Anlass werden für Gespräche, in denen wir mehr voneinander erfahren.