Franz Tumler, Volterra. Wie entsteht Prosa

" Die Sonne ist noch am Himmel, aber man sieht sie nicht mehr, sie geht am Himmel schon unter in der Zone aus Staub, die sich über der winterlichen Erdhälfte nicht mehr löst; - gestern noch über dem Meer: auf seinem Horizont, der als Berg aufstieg, setzte die Sonne einen weichen Fuß auf und sank langsam ein ..." S.7


So beginnt der erste Text.


„Wir waren auf der alten Straße, die es von früher noch gab und die nicht mehr befahren wurde, gekommen. Erst als wir Volterra verließen, sahen wir die neuen blauen Straßen, auf denen es schnell zu erreichen war: sie lagen alle drüben auf der anderen, lebenerfüllten Seite der Stadt. Wir waren auf ihrer nicht mehr benutzten Seite angekommen; und diese nicht mehr wahrnehmbare, nicht mehr wirkliche Seite ließ uns alles erkennen – der nicht mehr wirkliche Zugang führte uns hinein.“ S.18


„Ich erzähle dir jetzt von Volterra (...) Ich brauche so lange, bis ich mich auskenne, was war. Volterra, ein Bergrücken, der eine Stadt einlädt, sich auf ihm niederzulassen." S.22


„(...) und sah erst später, dass ich mit dieser kleinen Frage 'von wem bewohnt' hier am Schluss des ersten Satzes schon das Beste für meine Arbeit gefunden hatte: eine Unterbrechung und Schwierigkeit, die mich zwang, immer weiter zu gehen - vom Eindruck und der bloßen Nachzeichnung in ein vom Erlebnis losgerissenes, unabhängiges Schreiben. Dieser Weg einer Lösung der Dinge von Voraussetzungen außerhalb des Geschriebenen zu einer in ihm unabhängigen Existenz scheint mir der eigentliche Weg zu sein, der in jeder Arbeit zurückgelegt werden muss; und so sehe ich nun auch in dieser kleinen Wendung vom Anfang 'von wem bewohnt' und in dem Antrieb, der von ihr ausgeht, eine wichtige Kraft für das Ganze: nicht nur einen Anstoß, der die Sache über den bloßen Einfall hinausbringt, sondern einen zweiten Beginn, der ihr zu ihrer wahren Dimension erst verhilft und sie auch schon bis zu ihrem Ende bestimmt. Er ist Überschreitung und Vorwegnahme, und eben deshalb als Hemmung zu spüren; ein Punkt der Herausforderung, durch den der Autor über die Vorstellung, die er von seiner Arbeit hat, hinauskommen kann.“ S.42


„(...) und vielleicht kann man hier wieder einen allgemeinen Zusammenhang festhalten und sagen, dass dieser Punkt der Anknüpfung, aus dem ein Gedicht entstehen kann, etwas von uns ist, das durch unser Suchen und Spüren überallhin in die Dinge erst hinübergeht, und dann von uns dort entdeckt wird; und daß jedes Ding dafür gut ist, jeder Augenblick, und nicht das Besondere und Schöne.“ S.45


„(...) es war die Rolle eines Mannes, der Gelegenheit bekommt, etwas von der Sache, an die er denkt, sichtbar zu machen, sie in eine Szene umzusetzen, ihr Äußeres anschaulich vorzuführen, das ist der Ansatzpunkt; nun kann er auch versuchen, ihr Inneres, das ihm undeutlich ist, in Worten heraufzurufen: (...)“ S.45


Eine Art 'angenommener Rolle' ist für den Autor als erster innerer Schritt am Anfang notwendig. "Er braucht einen Punkt, der es ihm erlaubt, sich der Sache, die er schreiben will, gegenüberzusetzen, so daß sie außerhalb ist – nicht mehr etwas, das ihn umfließt, sondern etwas, auf das er hinsehen kann, wenn er sich dann auch gleichwohl noch selber darin erblickt.“ S.46


„(...) aber entscheidend dafür, dass eine Arbeit entsteht, ist der Punkt, an dem er sich nicht mehr einlebt, sondern an dem es ihm plötzlich keine Ruhe mehr lässt, als ob er eine Beute festhalten und wegtragen müßte; und nun schreibt er.“ S.47


„So wäre der Autor jemand, der an zwei Orten zugleich sein kann und dank dieser Fähigkeit seine Gegenstände ergreift. Er muss sie innen und außen haben. Das gilt auch dort, wo sein Stoff mit seinen Erlebnissen nichts zu tun hat. Er muss sich ihm doch ganz überlassen, sich in ihn hineinwagen, sich mit allem identifizieren, als wäre er es selbst. Zugleich aber muss er außerhalb bleiben, in einer durch nichts unterbrochenen Aufmerksamkeit nur mit Schreiben beschäftigt; und, wenn man es genau nimmt, in einem Zustand, in dem er am Gegenstand schon unbeteiligt ist; und beteiligt nur an den Wörtern und Sätzen, die er schreibt.“ S.47


„Der Lebensstoff soll umgesetzt werden in eine andere Sphäre von Gestalten und Wörtern, die nie genügen, sich zu weit schon entfernt haben, und sich doch behaupten wollen; der Autor spürt diese Spannung des Ungenügenden, Trennung, Unterbrechung, und muss sie ohne Nachlassen aushalten.“ S.48


„(...) die Hingabe an den Gegenstand und die vollkommene Trennung von ihm ist eine der Voraussetzungen künstlerischer Hervorbringung. (…) während der Dilettant zwar die Hingabe an den Gegenstand kennt, aber nicht den von ihm getrennten Platz.“ S.48


„Unversehens habe ich einen vierten Schritt getan: ich habe meinen Gegenstand aus der Nähe des Erlebten, in der ich mich mit ihm bewegt habe und ihn zu durchdringen suchte, entlassen in eine Entfernung, in der alles an ihm unerreichbar geworden ist – auch das von mir Erlebte, so dass ich es nun nicht mehr als erlebt, sondern als von mir nur dargestellt empfinde.“ S.50


„In diesem dargestellten Leben, in das der Schreiber alle ihm zugehörigen Lebensfiguren, einschließlich seiner eigenen, umzusetzen gezwungen ist, gibt es nur 'angenommene Rollen'. Das Leben selbst erscheint als 'Annahme'. Für den Künstler ist das keine bloße Redensart; es bezeichnet genau den Abstand, in dem er getrennt von sich selbst lebt. Das erklärt seinen Abstand auch vom konventionellen Leben; es macht ihn aber, auf eine tiefere Weise noch, auch allen Ordnungen fremd, die auf positive Werte gegründet sind: den bürgerlichen und sozialen Ordnungen, den Verwirklichungen von Staat und Religion." S.51


„Ich sah plötzlich, was eine Stadt war als ein von Menschen behaupteter Ort, umgeben von Wildnis, die ihn immer bedrohte.“ S.60




Es gibt einen Franz-Tumler-Literaturpreis. Mit meinem ersten Roman Der Bienenkönig wurde ich 2009 nach Laas eingeladen und lernte die Literatur von Franz Tumler kennen. Beeindruckt hat mich sein Buch über Volterra und das Entstehen von Prosa. Ich habe damals wenig über sein Leben gewusst.


Wikipedia weiß, dass er 1912 in der Nähe von Bozen geboren wurde und 1998 in Berlin starb. Er gehörte zu den Autoren, die von den Nazis gefördert wurden. 1938 quittierte er den Schuldienst, 1941 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht. Nach dem Krieg hatte er bis 1947 Publikationsverbot. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen leugnete er nie seine frühere Verstrickung mit der NS-Diktatur und die damit verbundene Schuld. Er setzte sich mit der NS-Zeit immer wieder auseinander, was zu seiner allmählichen Rehabilitation bei der zeitgenössischen Kritik führte. Ende der 1950er Jahre nahm Tumlers Skepsis gegenüber der realistischen Literatur zu, er wandte sich von der Position des allwissenden Erzählers ab und der literarischen Moderne zu. Seit 1954 war sein Hauptwohnsitz in Berlin, er nahm an mehreren Tagungen der Gruppe 47 teil. Er gehörte seit 1959 der Berliner Akademie der Künste an. In den 1990er Jahren wurde er wiederentdeckt, heute gilt Tumler als bedeutender Autor sowohl der Südtiroler als auch der österreichischen Nachkriegsliteratur.